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Schroedel Schulbuchverlag – 30. November 1987

das Selbstportrait im Grundkurs Kunst, 1988

GRUNDKURS KUNST 1

von Michael Klant, Annemarie Schulze-Weslarn, Josef Walch

Material für den Sekundarbereich II:
Malerei, Grafik, Fotografie. SELBSTPORTRAIT,
Albrecht Dürer, Rembrandt, Angelika Kaufmann, Caspar David Friedrich, Vincent van Gogh, Max Beckmann, Salvador Dali, Arnulf Rainer, Gottfried Helnwein.
Fotorealistischer Aufschrei, Gottfried Helnwein's Selbstportrait, 1983

SELBSTPORTRAIT

Geschichte und Theorie des Selbstportraits.

Der Divino artista der Renaissance: Albrecht Dürer

Die Selbstbefragung im bürgerlichen Barock: Rembrandt

Das Prunkportrait des höfischen Barock: Hyacinthe Rigaud

Das feminine Ideal im Rokoko: Angelika Kaufmann

Die Melancholie des Romantikers: Caspar David Friedrich

Malerfürst des Symbolismus: Arnold Böcklin

Seelische Krise im Nach-Impressionismus: Vincent van Gogh

Expressionistischer Märtyrer: Max Beckmann

Gemalte Psychologie im Surrealismus: Salvador Dali

Selbstzerstörung mit abstrakten Mitteln: Arnulf Rainer

Fotorealistischer Aufschrei: Gottfried Helnwein

FOTOREALISTISCHER AUFSCHREI: Gottfried Helnwein: Selbstportrait, 1983

Der Österreicher Gottfried Helnwein (geb. 1948) hält von ihm dirigierte Situationen mit dem Fotoapparat fest, bevor er sie in minutiöser Technik, z.T. mit der Spritzpistole, zu grossformatigen Gemälden umsetzt.

Im Falle seines theatralisch inszenierten Selbstportraits mit verbundenem Kopf (Abb. S. 40) musste er also zunächst selbst wie ein Schauspieler agieren. Dieses Vorgehen erinnert an die gleichzeitige Kunstform der Performance, der Selbstdarstellung in einer Handlung, von der nur fotografische oder filmische Dokumente bleiben (vgl. Kurs Fotografie, S. 143 ff.)

Auch die Fotosequenz von Timm Ulrichs (Abb. S. 42) hat mit der Inszinierung der eigenen Person zu tun.

Helnweins Selbstbildnis, von dem er seit 1982 verschiedene Versionen hergestellt hat, scheint das meistverbreitetste überhaupt.

Es wurde - vor allem im "Orwelljahr" 1984 - und immer wieder auf den Titelseiten international bedeutender Zeitschriften nachgedruckt, ja sogar für kommerzielle Zwecke, z.B. eine Plattenhülle, verwendet und hat so eine Auflage von weltweit mehreren Millionen Exemplaren erreicht.

Die Wirkung des Bildes in der Öffentlichkeit wird kontrovers diskutoert, wie die Stellungnahmen belegen.

J. P.:
"Daß er einem wochenlang von jeder Litfaßsäule und jeder Plakatwand ins Gesicht sprang, war schlimm genug. Daß ihn eine Rockband names "Scorpions" als Plattencover-Mann verwendete, unterstrich lediglich, wohin es mit dieser Branche inzwischen gekommen ist. Daß ihm das "Zeit-Magazin" eine Titelgeschichte widmete - naja. Daß ihn aber die Hamburger Fachhochschule tatsächlich als Lehrer für Medien - Illustrationen berufen will, dazu fällt mir nun allerdings nichts mehr ein. "Er" ist Gottfried Helnwein, 34, Österreicher und von Beruf leider Künstler. Seine Kunstwerke sehen meistens so aus wie das [...] "Selbstbildnis". Herrn Helnweins Augen sind in Wirklichkeit ganz intakt. Auch sonst hat er kein Gebrechen. Das freut mich für ihn. Als Mitmensch wünsche ich ihm, daß er auch in Zukunft nie zu denen gehören wird, die durch Krankheit, Unfall, dur Kriegsfolgen, Folterungen, oder andere Verbrechen verletzt und verstümmelt werden. Als Hamburger wünsche ich ihm und mir, daß er mit seinen Kunstwerken bleibt wo er ist."

Peter Sager:
"Gottfried Helnwein, Sohn eines Postbeamten, Ministrant, Klosterschüler Meisterschüler Rudolf Hausners: Warum malt er so? Warum malträtiert er sich so in seinem Selbstporträt [...] den Kopf bandagiert, Wundhaken in die Augen gebohrt, den Mund weit aufgerissen zu einem wahnsinnigen Schrei? Ein Schrei des Schmerzes und des Schocks, der Angst, des Entsetzens, der Aufschrei eines Gequälten und Geblendeten. Es ist ein Echo jener Schreie überall auf der Welt, die weit schrecklicher sind als dieser, der Schrei der Kunst. 'Einer erstellt die summe seiner beobachtungen in dieser welt der patzer und dämonen', schreibt H.C. Artmannüber Helnwein, 'er vernimmt die schreie aus den gekachelten schreckträumen einer satten gesellschaft...'

"In einer Aktion von 1976 hat Helnwein sich mit bandagiertem Kopf in Wien auf die Straße gelegt - die meisten schauten weg, 'reagiert haben eigentlich nur Kinder und alte Frauen.' Das will er auch mit seinen Bildern: die Mauer der Apathie durchbrechen, Reaktionen provozieren, vielleicht sogar Mitleid. Ein Moralist?"

GESPRÄCHSANREGUNGEN

1. Fassen Sie die Argumente pro und contra Helnweins Selbstporträt zusammen.

2. Wie erklären Sie sich die große Verbreitung dieses Bild?

3. Ist Helnweins Selbstporträt "realistisch"?

4. Beschreiben Sie den Umgang mit dem Medium Fotografie bei Helnwein, Baargeld (Abb. S. 32), Rainer (Abb. S. 36/37) und Ulrichs (Abb. S. 42).

5. Vergleichen Sie die Arbeiten von Rainer (Abb. S. 36/37), Helnwein und Ulrichs (Abb. S. 42) unter dem Aspekt der Selbstzerstörung.

6. Finden Sie Gemeinsamkeiten zwischen der Kunstform der Performance (Abb. S. 171) und dem "inszenierten" Selbsporträt. Ziehen Sie auch ältere Beispiele zur Untersuchung heran, z.B. das Selbstbildnis Rigauds (Abb. S. 19).

PRAKTISCHE ARBEITSANREGUNGEN

1. Inszenieren Sie ihr Selbstportät, und dokumentieren Sie den Vorgang fotografisch.

2. Entwickeln Sie eine Selbstdarstellerische Performance.

3. Stellen Sie eine Fotosequenz von Ihrem Porträt in einem Spiegel her, das sich schrittweise aus dem Bild (und wieder hinein) bewegt. Finden Sie eine Anordnung für Ihre Serie, die eine interessante formulare Struktur aufweist.

Gottfried Helnwein, das Selbstportrait im Grundkurs Kunst
1988 Schroedel Schulbuchverlag Michael Klant, Annemarie Schulze-Weslarn, Josef Walch