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Picus Verlag, Wien – 30. November 1987

Picus Verlag, Wien, 1988

GEGENWARTSBILDER

von Herbert Muck, Herausgegeben von Ottokar Uhl

Kunstwerke und religiöse Vorstellungen des 20. Jahrhunderts
Das Bild des Menschen in der Leidensnot, des unschuldig Verfolgten und Gequälten, das aus der Kunstgeschichte in zahllosen Märtyererszenen bekannt ist, entsteht immer wieder neu. In den Zahnwehbildern von Oswald Oberhuber und in den Bildern von Gottfried Helnwein ist Betroffenheit über Schmerz und Ausweglosigkeit in der Situation des Kindes dargestellt. Das Kind ist die Gestalt des Unterlegenen, Abhängigen, Ausgelieferten und Ausgenützten. Unter dem Druck einer auf Anpassung drängenden Erwachsenenwelt werden ihm tiefe Verletzungen eingeprägt, entstellende Traumata.
Die Bandagen bei Helnwein oder schon zuvor bei den Wiener Aktionisten (Schwarzkoglers Bandagenaktionen) verweisen sowohl auf die Entstellung des Körpers wie auf das Verborgene dieser Verletzungen. Sie üben auf dem Hintergrund einer Tabuisierung von Verwundung, Behindertenexistenz und Tod eine starke Wirkung aus und setzen heftige Reaktionen frei.

V Bilder der Lebenssituationen, Struktur- und Aktionsmalerei
Herbert Muck
In der Auseinandersetzung mit der Romantik, insbesondere mit C.D. Friedrichs Bildern der Randsituation im indefiniten Raum, wird die Wechselbeziehung zwischen Naturalisierung bzw. ?interpretatio humana? sakraler Themen und Sakralisierung der Landschaft durch die Form herausgearbeitet, was auch für Bilder der Gegenwart gilt. Eine Wandlung im Verhältnis zur Natur betrifft auch die religiösen Vorstellungen und Bilder.
Der Begriff Strukturbild bezieht das visuelle Erfahrungsfeld ungegenständlicher Malerei auf das allgemeine Interesse an systemübergreifenden Beziehungsfeldern. Von der Theologie werden Bilder aufgrund ihrer Formqualität als religiöse legitimiert.
In einer Malerei der Aktion und Gestik wie in einer der Beruhigten farbigen Zustände gewinnen einzelne Werke religiöse Wertung.

Wandlung in der religiösen Bewertung der Natur
(Auszug)
Das Bild des Menschen in der Leidensnot, des unschuldig Verfolgten und Gequälten, das aus der Kunstgeschichte in zahllosen Märtyererszenen bekannt ist, entsteht immer wieder neu. In den Zahnwehbildern von Oswald Oberhuber und in den Bildern von Gottfried Helnwein ist Betroffenheit über Schmerz und Ausweglosigkeit in der Situation des Kindes dargestellt. Das Kind ist die Gestalt des Unterlegenen, Abhängigen, Ausgelieferten und Ausgenützten. Unter dem Druck einer auf Anpassung drängenden Erwachsenenwelt werden ihm tiefe Verletzungen eingeprägt, entstellende Traumata.
Die Bandagen bei Helnwein oder schon zuvor bei den Wiener Aktionisten (Schwarzkoglers Bandagenaktionen) verweisen sowohl auf die Entstellung des Körpers wie auf das Verborgene dieser Verletzungen. Sie üben auf dem Hintergrund einer Tabuisierung von Verwundung, Behindertenexistenz und Tod eine starke Wirkung aus und setzen heftige Reaktionen frei.

Bedenkenlose Montage ? zum Prinzip erhoben
Bei gleichem Grundaliegen wie Lukács, nämlich der Durchbrechung von zwanghaften Formen der Entfremdung, jedoch ohne die Perspektiven von Tonalität, Werkbeziehung und Symbolniveau werden Realität und Engagement auch im bedenkenlosen Einsatz von Montage, Massenklischee und reproduzierbaren Vorstellungsmustern vertreten. Die Formulierungen W. Benjamins werden dabei in anderer Richtung als in der von Lukács verfolgten interpretiert.
Eine Kunst wie Rockmusik oder wie die Massenkunst der Comics gegen die ?autonome? Kunst des ?Bürgertums? und seines elitären Bildungsanspruchs findet Peter Gorsen in den Bildern und erklärten Absichten von Gottfried Helnwein (?Helnwein, Arbeiten von 1970-1985, Albertina Wien 1985 10 ??). Er verteidigt diese Trivialästhetik unter Berufung auf Walter Benjamin, der die ?auratische?, auf Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit angelegte, noch kultisch bestimmte Kunstproduktion gegenüber den seriellen Reproduktionsbildern des industriellen Zeitalters als periphere und anachronistische abwertet. Eine traditionell hermetische Malerei könne mit der simultanen Kollektivrezeption z.B. des Films nicht mehr mithalten.
Für Benjamin steht die Massenkunst als Ausdruck der Bemühung um soziale und demokratische Einstellung und Produktion gegen eine, die den Stufungen des Bildungsstandes entspricht und mit einem hierarchischen System der Bildungsvermittlung zusammenhängt. Die Kunst der mittelalterlichen Klöster und Kirchen ist dafür das abschreckende Beispiel. Kunst bzw. elitäre Ästhetik ?als Vermittlung? wird von da her dem Kultischen angehängt. Man erweckt damit die Illusion, die Massenkunst sei unvermittelt und keineswegs manipuliert und manipulativ. Die heute auch auf der Ebene anspruchsvollster Literatur berücksichtigte Rezeptionsästhetik wird als Markenzeichen der Massenkunst reklamiert.
Richtig daran ist, dass es eine Beschäftigung mit Kunst gibt ? seitens mancher Maler, Kritiker, Kunsterzieher ?, die sich auf dem Niveau einer Reiz-Reaktions-Psychologie nur mehr mit dem Provozieren von voraussehbaren Reaktionen beschäftigt. Das Interesse für Bildeffekte verdrängt die Fähigkeit, sich mit dem Werk als Malerei, Skulptur usw. zu befassen. (Gorsen hat hier Helnweins Fähigkeit als Maler keinen guten Dienst erwiesen.) Das Beispiel zeigt deutlich, wie weit sich das auf die Vorstellungsschemata bezogene, reproduzierbare Bild und das Malen, Skulpieren, Konstruieren usw. als in der Besonderheit eines Werkes vergegenständlichte Auseinandersetzung mit Realität, als Leibhaftes, sinnenbezogenes Realisieren, auseinander-entwickeln. Gegensätzliche Standpunkte in der Kunstbewertung kommen oft deshalb zustande, weil man die beiden Ebenen des Interesses an Bildwerken ? die Bildschemata und die im Werk konkretisierte Beziehung ? in ihrer spezifischen Differenz nicht wahrnimmt und Realität bald im Werk, bald im Kontext des Werkes oder des Bildes aufsucht. Das Übergreifende, das mit Transzendenz gemeint ist, wird dementsprechend jeweils anders bestimmt und gewertet.

Gedruckt mit Unterstützung des Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung in Österreich

1988 Picus Verlag, Wien Herbert Muck